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Ein „altes“ Haus stellt sich vor: Hofholzallee 69
Autor/Quelle: Hans-Peter Dehn, Hasseldieksdammer Rundbrief 2/2007 mit Ergänzungen aus Dezember 2009
Anfang Mai 1945 kamen meine Mutter, meine Schwester Helga (1938), mein Bruder Klaus (1945) und ich (1939) nach der Flucht von Putbus auf Rügen zu unseren Großeltern nach Kiel in die Hofholzallee 69. Ein im Juli 1944 durch Brandbomben zerstörtes und notdürftig wieder hergerichtetes Haus mit einem Teerpappdach sollte unsere Bleibe sein. Und Oma Dehn hatte zu unserem Empfang neben den Tränen der Freude auch noch einige schrumpelige Boskop-Äpfel in der Schürze!
Einige Tage nach unserem Eintreffen in der Hofholzallee ratterten englische Panzer durch die Straße. Solche Ungetüme mit dem höllischen Lärm hatte ich noch nie gesehen. Der Konvoi stoppte vor unserem Haus und ein Panzersoldat forderte meinen Großvater auf: „Come here!“ und warf ihm eine angezündete Zigarette vor den Füßen. Doch Opa Dehn hatte seinen Stolz nicht verloren und zertrat die Zigarette vor den Augen des Panzerfahrers.
„Wir brauchen frisches Wasser“ bring uns 50 Liter“, und mein Großvater, damals schon fast 70 Jahre alt, schleppte die erste Kanne mit 10 Litern zum Panzer. Dort bekam er einen Becher gereicht, den er aus der Kanne füllen und austrinken mußte. Erst 10 Minuten später als er noch ‚lebend‘ neben dem Panzer stand, kamen 2 Mann der Panzerbesatzung mit Behältern und holten das Wasser direkt aus dem Zapfhahn in unserem Haus.
Haus Buchenhorst, erbaut von Erna u. Hans Dehn 1910 (Foto: H.-P. Dehn)
1944 Zerstörung durch Brandbomben u. notdürftige Herrichtung. Auf dem Fußweg: Helga, Hans-Peter und Klaus, Mai 1945 (Foto:H.-P. Dehn)
Wir wohnten in einem kleinen Zimmer von ungefähr 12 m2 mit einem dreistöckigen Notbett aus einem Luftschutzbunker für uns drei Kinder und eine Matratze für unsere Mutter. Für die Unterbringung unserer wenigen Habseligkeiten stand uns ein Kleiderschrank mit etlichen Brandspuren zur Verfügung. Die Großeltern wohnten in einem weiteren kleinen Zimmer. Das Klo – dem kam später eine besondere Bedeutung zu – war in einem verkleideten Anbau eingerichtet. Die Küche, der einzige durch einen Holz- und Kohlenherd beheizbare Raum, musste allen für Alles zur Verfügung stehen. Waschen, Zähneputzen, Kochen, Mittagessen, Schularbeiten, usw..
Nur zum Pfeifenrauchen mit Tabak aus „eigenem“ Anbau (die Anzahl der Tabakpflanzen mußte behördlich auf einem Erlaubnisschein genehmigt werden!) mußte Opa Dehn damals schon ins Freie. Die Tabakblätter wurden nach der Ernte auf ein dünnes Band oder einen Draht aufgezogen und unter dem notdürftig hergerichteten ‚Spitzboden‘ getrocknet und anschließend mit einem scharfen Messer zu „Feinschnitt“ verarbeitet und in alten Weckgläsern aufbewahrt.
Dass wir im Haus unserer Großeltern fast den Himmel auf Erden hatten – allein schon wegen der Erträge aus dem großem Garten – wurde mir erst bewußt, als mich mein Klassenkamerad Niclas – ein Flüchtlingsjunge aus Ostpreußen – mitnahm in das Flüchtlingslager Julienlust (Heisterbusch/- heute Hasselteich -).
Wir gingen zusammen in die zweite Klasse der Gorch-Fock-Schule (damals 53 Schüler in einem Klassenraum!) Manchmal blieb der Platz neben mir leer, und als ich Niclas fragte, was denn gewesen sei, erzählte er mir, dass er mit seinen dünnen Schuhen nicht über den „Matschweg“ vom Lager zur Schule kommen konnte.
Die beiden Klassenräume der „alten“ Gorch-Fock-Schule wurden in der kalten Jahreszeit noch mit Kachelöfen beheizt. Während der Unterrichtsstunden mußte ein älterer Schüler für „Nachschub“ mit Kohle sorgen, und er hatte auch die Aufgabe, die Tintenfässer in der Mitte der Schülertische aus einer großen Flasche mit „Gummischnuller“ zu füllen.
Irgendwann im Herbst nahm ich Niclas wieder mit zu uns in die Hofholzallee, und meine Großmutter steckte ihm ein paar Äpfel zu.
Das hatte sich wohl sehr schnell im Lager herumgesprochen, und als mich Niclas wieder besuchte, brachte er 5 Mädchen oder Jungen mit, und meine Großmutter verteilte aus ihrer Schürze so viele Äpfel bis alle Hosentaschen prall gefüllt waren.
Im Frühjahr nahm mich Niclas wieder mit in das Barackenlager Julienlust. Ich konnte mir kaum vorstellen, was ich dort sah, und was mich heute noch wundert, keiner hat geklagt oder gejammert.
„Das da oben ist mein Bett, darunter schläft meine Schwester und ganz unten mein kleiner Bruder. Auf der anderen Seite schläft meine Mutter im oberen Bett, und Opa, weil er nur noch einen Bein hat, schläft unten. Und hier kocht meine Mutter unser Essen auf der ‚Hexe‘ und hier essen wir.
Den Opa lernte ich dann kennen. „Du gehörst aber nicht zu uns“, war die erste fast barsche Reaktion. „Ja, das stimmt, aber Niclas hat mich eingeladen“.
Vor der Barackentür auf einer selbst gebauten Bank aus Asthölzern mit einem „leeren Hosenbein“ saß Niclas Großvater auf einer Bank und entrindete zwei dünne Weidenstäbe für einen Drachen!
Wie oft hatte ich mich schon vorher an einem Drachengestell versucht. Leisten, Band und Papier standen mir zur Verfügung, aber die Konstruktion hatte nie geklappt.
Und dann kam der Vorschlag von Niclas Großvater: „Du bringst uns ein paar Leisten, etwas Band, zwei Seiten Zeitungspapier und – wenn Du nichts anderen auftreiben kannst, etwas Mehl für den Kleister“. Und ich brachte Leisten, Mehl für den Kleister und etwas Band – aber kein Zeitungspapier – nein- buntes Spannpapier – welches mein Großvater aus seiner Fabrik über den Krieg gerettet hatte – mit in das Lager Julienlust. Ich habe dieses schmale Bündel auf dem Weg von der Hofholzallee in das Julienluster Lager gehütet, wie meinen Augapfel. Und der Opa von Niclas baute innerhalt einer halben Stunde einen Drachen für Niclas und mich. Dann mußten wir noch trockenes Gras für den Drachenschwanz rupfen, und ab ging der bunte Drachen in den Himmel.
Meinen Drachen habe ich damals in den Baumgipfel des Hasseldieksdammer Waldes verloren und heute denke ich manchmal wehmütig an diese Zeit, wenn ich den Song von Udo Jürgens „der gekaufte Drachen“ im Radio höre.
Aber jetzt will ich wieder zurück zum Thema „Ein altes Haus stellt sich vor“.
Dass das Haus – oder was davon übrig geblieben war – nicht von den englischen Besatzern belegt wurde, hatten wir allein dem oben erwähnten „Plumpsklo“ zu verdanken. Zunächst war vorgesehen, in „unserem“ Haus einen Friseursalon, einen „hairdressing-saloon“ für die Engländer, welche die meisten Häuser in der Hofholzallee besetzt hatten, einzurichten. Davon wurde – zu unserem Glück – wegen der „sanitären Verhältnisse“ Abstand genommen.
1953 entschlossen sich mein Großvater und mein Vater, das Haus gemeinsam wieder aufzubauen. Aus einem Einfamilienhaus musste ein Zweifamilienhaus mit erheblichen Zugeständnisse an die Größe der Zimmer, der Küchen und der Badezimmer mit „Sitzbadewanne“ werden.
Nach dem Tod meines Vaters 1959 haben meine Frau und ich das Haus 1980 von meiner Mutter (verstorben 1995) übernommen. In diesem Haus sind unsere Kinder Julia und Jan-Peter aufgewachsen, heute freuen sich unsere drei Enkelkinder auf einen Besuch bei uns.
1953 Wiederaufbau durch Hans und Karl-Heinz Dehn (Foto: H.-P. Dehn)